6. Eintrag (7. März)

Manchmal sollte man auch einfach mal los spazieren und dem Zufall in die Arme laufen. Diese Weisheit habe ich aus dem Buch „Das große Los“, in welchem Meike Winnemuth über ihre Weltreise berichtet und ihre währenddessen auftretenden Erfahrungen, Gedanken und Emotionen teilt. Mit diesem Mindset im Hinterkopf habe ich letztens einen Tagesausflug gemacht. Auf Empfehlung meiner Gasteltern hin, bin ich über die große Chesapeake Bay gefahren und nahm anschließend Kurs auf die kleine Urlaubs-Ortschaft Cambridge (Maryland). Generell ist das gesamte Festland östlich des Bays eine einzige große Urlaubsregion und auf magische Weise habe ich das auch sofort gefühlt. Kaum die große „Bay Bridge“ verlassen und am anderen Ufer angekommen, fühlt man sich wie auf Rügen. Ich kann es gar nicht wirklich beschreiben. Alles wirkte von jetzt auf gleich friedlich, deutlich gelassener und man wollte sich einfach von diesem Feeling mitreißen lassen. Und das, obwohl es nur circa eine Stunde von meinem Zuhause entfernt ist. Gut, bestimmt haben die schönen 16° Celsius an dem Tag auch zu dem Urlaubsgefühl beigetragen (ihr glaubt nicht, wie verrückt das Wetter hier spielt). In Cambridge angekommen, bin ich dann wie geplant, schlichtweg ziellos am Strand entlang gelaufen. Nach einem kurzen Smalltalk mit einem Hundebesitzer, dessen Welpe wie verrückt im Wasser herum hüpfte, vielen aber dann doch Gefühle von Einsamkeit über mich her. Um dem entgegenzuwirken, habe ich eine Freundin in Deutschland gefragt, ob sie spontan Lust hat, zu quatschen. Da sie leider keine Zeit hatte, habe ich mein zielloses durch die Gegend laufen fortgesetzt und mich weg vom Wasser und mehr in Richtung Innenstadt bewegt. Das tat ich solange, bis ich schließlich dem Zufall in die Arme gelaufen bin und eine kleine Kunstgalerie/Rahmenwerkstatt entdeckt habe. In der Hoffnung, vielleicht ja ein preiswertes schönes Gemälde als Andenken an meine Zeit in den USA zu finden, betrat ich das Geschäft und wurde unmittelbar von einem älteren Herren mit dem wahnsinnig coolen Namen Doug Turner begrüßt. Er sagte seine üblichen Worte „Hi, how are you?“ auf, welche ich mit „I’m doing good, how about yourself?“ erwiderte. Daraufhin passierte etwas interessantes, denn er antwortete mit folgenden Worten: „Good! ……… How are you?“. Nachdem ich kurz etwas verwirrt war, verstand ich, warum er ein und dieselbe Frage erneut stellte. Das erste Mal war einfach nur die Floskel, das zweite Mal war ernst gemeint. Sofort wusste ich: „Ok, der Mann hat Bock zu quatschen!“. Und so kam es, dass wir mit Leichtigkeit in ein tiefes Gespräch über Gott und die Welt (im wahrsten Sinne des Wortes) verwickelt waren, welches über eine Stunde anhielt. Doug ist ein inspirierender Mensch, der lange Zeit im Krankenhaus gearbeitet hatte und nach Eintritt des Rentenalters gemerkt hat, dass nichts tun nichts für ihn ist und er daraufhin sein Art Framing Business aufgemacht hat, was bis zu dem Zeitpunkt sein Hobby war. Zusätzlich singt er im Kirchenchor und ist der erste Mensch, der mir je begegnet ist, der nur anhand meiner Sprechstimme erkannt hat, dass ich ebenfalls Sänger bin. Doug hat mir gezeigt, dass man ruhig sehr unterschiedliche Persönlichkeiten und grundlegend verschiedene Auffassungen haben kann und man sich trotzdem sehr gut verstehen kann. Denn er ist laut eigener Aussage ziemlich konservativ, hat einen tiefen Glauben in Gott und irgendwie kann ich mir auch gut vorstellen, wen er am 5. November vergangenen Jahres gewählt hat. All diese Dinge habe ich absolut nicht mit ihm gemeinsam, doch das war an dem Tag völlig egal. Wir waren einfach nur zwei aufgeschlossene, neugierige Menschen, die etwas über den jeweils anderen erfahren wollten. Am Ende bedankte er sich, dass ich in seinen Laden gekommen bin und hat sich noch einmal meinen Namen sagen lassen, damit er ihn auch bloß nicht vergisst. Als Andenken an diese schöne Konversation habe ich letztendlich tatsächlich ein handliches Gemälde gekauft, welches ein lokaler Künstler gemalt hat. Das Bild zeigt einen Weißkopfseeadler und zwar ziemlich genau aus dem selben Winkel, wie ein Foto, welches ich ein paar Tage vorher von einem echten Weißkopfseeadler gemacht habe.

Ein anderer Ratschlag, den mir Meike Winnemuths Buch mit auf den Weg gegeben hat, ist: Neues ausprobieren und einfach mal öfter „Ja“ sagen. So kam es, dass Becci und ich Synchronsprecher in einem Podcast geworden sind. Becci ist eine meiner Mitspidendiat:innen und in den vergangenen elf Monaten eine sehr enge Freundin von mir geworden. Das besondere an Becci ist, dass ihr auf wundersame Weise immer spontane und auf Zufall basierende Dinge widerfahren. Die Frau ist einfach immer busy und weiß selber nicht so genau, wieso eigentlich. Ich habe vor Kurzem noch ein Buch gelesen, indem es exakt darum ging und erklärt wurde, wieso es kein Zufall ist, dass bestimmten Menschen (wie Becci) ständig originelle Situationen widerfahren. Und zwar, weil sie offen dafür sind. Die Erkenntnis klingt zwar gar nicht so spektakulär und offenbarend, aber es ist verrückt, wie sehr das zutrifft. Kaum ändert man seine Einstellung dem gegenüber und ist bereit für Neues, geht’s auch schon los. Vielleicht waren diese unberechenbaren Situationen bei mir auch vorher schon da (Teil eines Wise-Guys-Cover-Quintetts sein, zum Teamleiter befördert worden, das Interview mit dem WDR oder der Zeitungsartikel über mich) und ich habe sie nur nicht als solche angesehen. Wie auch immer! Jedenfalls ist Becci letzte Woche anlässlich ihres Geburtstags von Cleveland (Ohio) nach Washington D.C. herunter gefahren und ist mit mir und zwei weiteren Freund:innen essen gegangen. Dort erzählte sie mir, dass eine ihrer amerikanischen Freundinnen bei einem Podcast mit dem Namen „The World and Everything In It“ arbeitet und sie für ihren History-Teil auf der Suche nach zwei Menschen mit deutschem Akzent sind. Speziell in der Folge ging es um einen gläubigen Österreicher im zweiten Weltkrieg, der sich mithilfe seiner Treue zu Gott geweigert hat, für die Nazis zu arbeiten. Der Redaktion liegen echte Briefe zwischen ihm (Franz Jägerstätter) und seiner Frau vor und damit es etwas authentischer wirkt, sollten den Briefen im Podcast am besten deutsche Akzente verliehen werden. Becci wurde somit gefragt, ob sie das nicht für die Frauenstimme übernehmen will und selbstverständlich hat sie zugesagt (Becci halt). Und da ja noch eine männliche Stimme gesucht wurde, dachte sie an mich und hat mich netterweise gefragt. Obwohl der gesamte Podcast religiös aufgebaut ist und ich Atheist bin und es sich unabhängig davon um ein sehr ernstes und bedrückendes Thema handelt, hat es mir sehr viel Spaß gemacht und ich bin froh, „Ja“ gesagt zu haben.

Es sind die vielen kleinen Dinge, die dieses Auslandsjahr so besonders machen.