2. Eintrag (9. September)

Und schon ist der erste Monat herum. Einerseits erschreckend, weil das Abenteuer gefühlt noch gar nicht richtig begonnen hat und schon jetzt nur noch 10 Monate übrig sind, aber andererseits eigentlich auch gut so, dass die Zeit wie im Fluge vergeht. Denn das ist mir viel lieber, als wenn sich die Tage ellenlang ziehen würden und gar nicht vorbeizugehen scheinen. Nein, es ist wirklich sehr aufregend hier. Irgendwie ist alles gar nicht groß anders als zuhause, aber gleichzeitig wiederum schon. Ein kleines Beispiel: Man kennt hier zwar fast jede Automarke und sogar auch die Modellnamen, aber die Modelle sehen auf den zweiten Blick dann doch ziemlich anders aus. Der VW Tiguan beispielsweise ist hier genauso beliebt wie in Deutschland, sieht aber hier anders aus, weil er an die amerikanischen Bedürfnisse angepasst ist. Und solche halbwegs vertrauten Dinge fallen mir hier täglich unzählige Male auf.

Im ersten Eintrag hatte ich mich ja gefragt, wann wohl der Zeitpunkt kommen wird, an dem ich das ganze Ausmaß dieses Auslandsjahres realisiere. Tatsächlich kam das schneller als erwartet. Nämlich während der Landung noch. Genauer gesagt als das Flugzeug immer tiefer in Richtung Boden sank, der Pilot trotz der sehr starken Windböen einen extrem weichen Touchdown hinlegte und ich dann zum ersten Mal die große USA-Flagge über dem Terminalgebäude wehen sah. Da kam es plötzlich über mich und ich alte Heulsuse hörte nicht mehr auf.

Viel Gewöhnungszeit blieb allerdings gar nicht so wirklich, denn die ersten zwei Wochen waren erstmal voll mit organisatorischen Dingen: Beantragung der Social Security Number, Bankkontoeröffnung, Beantragung des örtlichen Führerscheins, Autosuche mit anschließendem Kauf, Abschluss einer KFZ-Versicherung, Kurswahl am College und noch vieles mehr. Das problematische daran war, dass die ganzen ToDos direkt zu Beginn anstanden, während man aber logischerweise noch kein Auto hatte. Da ich ja ziemlich außerhalb der Stadt wohne und man hier ohne Auto nicht vom Fleck kommt, war ich also extrem unmobil und auf die Hilfe meiner Host Mom angewiesen. Diese hat mich zwar auch netterweise sehr bei der Erledigung aller ToDos unterstützt, dennoch konnte ich es kaum erwarten, endlich ein eigenes Auto zu haben und damit meine Flexibilität wieder zurück zu erlangen. Irgendwann kam dann der Tag, an dem alle ToDos erledigt waren und ich den Schlüssel meines 2011er Honda Civics stolz in den Händen hielt. Doch interessanterweise war ausgerechnet der erste Tag nach Vollendung aller „First Weeks ToDos“ der Tag, an dem mich die Einsamkeit gepackt hatte. Und jetzt im Nachhinein betrachtet war das auch überhaupt kein Zufall. Ich war in den ersten Tagen noch so sehr im „Orga-Tunnel“ und von jetzt auf gleich hatte ich ein Auto und Freizeit und plötzlich war ich total überfordert damit. Sofort kamen Fragen auf wie: „Und jetzt?“, „Wo soll ich jetzt mit dem Auto hinfahren?“, „Warum habe ich die ganze Zeit auf diesen Moment gewartet?“. Das hat sich dann ganz schnell zu sehr viel tiefgründigeren Fragen hochgeschaukelt wie: „Warum bin ich eigentlich hier?“, „Passt ein Auslandsjahr überhaupt zu mir?“, „Werde ich ein Jahr ohne meine Familie und Freunde aushalten?“. Ich habe versucht, aggressiv gegen die Einsamkeit anzukämpfen und bin in die Downtown von Baltimore gefahren. Leider entpuppte sich die Idee als kontraproduktiv, weil ich mich alleine unter den ganzen Leuten erst recht einsam gefühlt habe. Letztendlich war es meine Schwägerin, die mich aus dem Loch wieder herausgeholt hat. Sie ist diejenige, die mir das PPP damals empfohlen hat und hat selbst schon viele Auslandsjahre gemeistert. Als sie mir schrieb, dass sie diese Phasen ebenfalls jedes einzelne Mal aufs Neue durchgemacht hat und das völlig normal ist, beruhigte mich das sehr. Ich habe zwar nach wie vor immer noch sehr viel Respekt davor, Dinge alleine zu unternehmen und weiß auch, dass das eine Schwäche von mir ist, aber immerhin hinterfrage ich nicht mehr das gesamte große Abenteuer!

Aber wie gesagt war das ein einziger Ausnahmetag. Ich habe jetzt schon so viele tolle Dinge erlebt, dass ich die hier gar nicht alle aufzählen kann.

Mittlerweile hat auch bereits das College angefangen. Ich hatte für die Kursbelegung neun Credits zur Verfügung. Neben den beiden berufsbezogenen Kursen habe ich auch einen Chorkurs (Chamber Singers) und Gesangsunterricht gewählt. Über den Gesangsunterricht kann ich noch nicht viel berichten, da ich genau morgen meine erste Stunde haben werde. Den Chamber Singers Kurs hatte ich allerdings jetzt schon vier Mal und das wird ab sofort jede Woche mein Wochenhighlight! Unmittelbar vor dem ersten Treffen hatte ich einen anderen Kurs. Dort waren die Mitstudenten wirklich unglaublich schüchtern und haben bei Betreten des Raumes nicht einmal ein murmelndes „Morning“ herausquetschen können. Nach der Erkenntnis, dass ich dort wohl eher nicht auf eine tolle Klassengemeinschaft (und damit Freunde) hoffen kann, habe ich meine Erwartungen an meine restlichen Kurse, zumindest was das angeht, deutlich heruntergeschraubt. Ich betrat also den Musikraum und merkte sofort: Musiker unter sich sind einfach anders! Direkt wurde ich herzlich begrüßt und fühlte mich von Sekunde 1 an pudelwohl. Die Leute und auch die Chorleiterin sind super nett und lustig und die Atmosphäre ist im Prinzip exakt wie im Jugendchor zuhause. Familiär, spaßig und dennoch mit einer kleinen Prise Disziplin. Das kenne ich von meinen Chören zuhause nicht anders, denn nur mit dem richtigen Maß an Engagement kann ein gutes musikalisches Niveau aufgebaut und gehalten werden und ich bin froh, dass es hier nicht anders ist. Und das Beste an der ganzen Sache ist, dass wir gleich 2x pro Woche proben!

Abseits des musikalischen Spaßfaktors sehe ich im Chor auch großes Potential, Anschluss zu finden. Wobei ich mir aber vorsichtshalber noch nicht zu große Hoffnung machen möchte, da ich noch nicht ganz einschätzen kann, ob die Leute wirklich Interesse daran haben, den Kontakt auszubauen oder ob es nicht doch einfach nur die amerikanische Höflichkeit und Small Talk Liebe ist. Wie auch immer, wir werden sehen.

Bisher ist dieses Abenteuer also eine absolute Achterbahnfahrt der Gefühle. Aktuell muss ich sagen, dass ich tatsächlich ein bisschen zu viel um die Ohren habe. In erster Linie freut mich das, weil dadurch gar nicht erst Langeweile (und damit Einsamkeit) aufkommen kann, aber momentan ist es dann doch etwas zu viel. Das College nimmt trotz der wenigen Kurse dann doch ziemlich viel Zeit in Anspruch, dann kommen noch private ToDos dazu (wie zum Beispiel diesen Blog zu schreiben), dann muss ich langsam echt mal nach Gelegenheiten für das Volunteering Ausschau halten und mich gleichzeitig nach Jobs ab Januar umschauen. Nebenbei möchte ich aber auch keine Abstriche beim Kontakt zu Freunden und Familie nach Deutschland machen und das Reisen und die Planung für zukünftige Reisen darf auch nicht zu kurz kommen.

Es ist gerade etwas schwierig, alles unter einen Hut zu bekommen, aber wie gesagt: Das ist mir lieber als pure Langeweile.